Die Zukunft der Prüfungen: (Fast) alle Hilfsmittel sind erlaubt!
Gespräch mit Mathias Richter vom Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). Er ist dort als Referatsleiter Dokumentation/Berufliche Bildung Ersatzkassen tätig und in dieser Funktion in vielen Gremien für die Berufsbildung vertreten, z. B. in Prüfungs- und Aufgabenerstellungsausschüssen. Seit 2018 ist er alternierender Vorsitzender im Berufsbildungsausschuss beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), der Hauptberuf in der Zuständigkeit der zuständigen Stelle sind die Sozialversicherungsfachangestellten. Für diesen Beruf arbeitet der Ausschuss derzeit an der Thematik Open-Book-Prüfungen.
Was kennzeichnet aus deiner Sicht Open-Book-Prüfungen?
Die Prüfungen zeichnen sich dadurch aus, dass fast alle Hilfsmittel zulässig sind. Das betrifft neben der bisher bei unseren Prüfungen allein üblichen Gesetzessammlung auch alle anderen Materialien. Hierzu gehören alle in der Ausbildung verwendeten Unterlagen wie auch selbst erstellte Materialien. Aber auch die Nutzung des Internets ist erlaubt.
Nicht zulässig ist aber die Kommunikation mit anderen, wie Gespräche, Telefonate, Chat oder Mails, denn eine Gruppenprüfung ist es ja nicht, sondern es soll die berufliche Handlungskompetenz einer Person geprüft werden.
Wie seid ihr auf die Idee gekommen, dies in Betracht zu ziehen?
Im Berufsbildungsausschuss beim Bundesamt für Soziale Sicherung – wie auch in jedem anderen Berufsbildungsausschuss – geht es ja auch um die stetige Entwicklung und Verbesserung der Qualität der beruflichen Bildung. Hierzu gehört auch, die Entwicklung der Arbeitswelt in den Blick zu nehmen, denn eine handlungsorientierte Prüfung muss sich an den veränderten Arbeitsanforderungen orientieren. Wenn die Auszubildenden in der Praxis mit digitalen Medien arbeiten und keine Loseblatt-Gesetzessammlungen mehr in die Hand nehmen, dann kann es doch nicht sein, dass in den Prüfungen nur Gesetzessammlungen oder Auszüge davon benutzt werden dürfen. Wenn unser Ziel sein soll, berufliche Handlungskompetenz besser abzuprüfen, dann müssen wir dies berücksichtigen.
Bei unseren Bachelorstudent*innen haben wir gesehen, dass Open-Book-Prüfungen funktionieren, und daraus ist dann die Idee entstanden, diese auch für berufliche Abschlussprüfungen einzusetzen.
Welche Vorteile haben Open-Book-Prüfungen?
Ich hatte es angesprochen, Prüfungen rücken dadurch etwas näher an die Praxis im Arbeitsalltag. Sie sind dadurch noch etwas besser in der Lage, berufliche Handlungskompetenz abzuprüfen, denn es werden damit ja nicht nur mehr Hilfsmittel zugelassen, sondern die Prüfung insgesamt verändert sich.
Im Ergebnis haben wir Prüfungen auf einem höheren Niveau; die zu Prüfenden haben mehr Alternativen zur Auswahl, und das stellt andere Anforderungen an sie. Es geht nicht mehr nur darum, in der Gesetzessammlung die „richtige Stelle“ zu finden, sondern aus einer deutlich größeren Zahl von Optionen auszuwählen.
Wie sieht der weitere Weg aus?
Eine konkrete Umsetzung ist gewünscht, wird aber noch etwas dauern. Wir verwenden Open-Book-Prüfungen bereits testweise bei unseren internen Klausuren und haben damit gute Erfahrungen gemacht.
Vor einer Umsetzung in den Prüfungen sind aber noch einige Schritte notwendig. Zunächst ist zu klären, ob es rechtliche Bedenken gibt und wie diesen eventuell zu begegnen ist. Im nächsten Schritt trägt die zuständige Stelle ein Meinungsbild der weiteren einzubeziehenden Akteure zusammen, dies sind z. B. Aufgabenerstellungsausschüsse und die Sozialversicherungsträger. Ziel ist es dann, eine realistische Zeitschiene erstellen zu können, ab welchem Zeitpunkt ein Wechsel zu Open-Book-Prüfungen stattfinden kann.
Wenn hier eine Einigung erzielt ist, kann die Open-Book-Prüfung leider auch noch nicht unmittelbar umgesetzt werden. Die Auszubildenden müssen auf die „neue“ Prüfungsgestaltung vorbereitet werden, d. h., bei Ausbildungsstart sollte die Prüfungsform schon bekannt sein und in der Ausbildung darauf vorbereitet werden. Schließlich muss auch die entsprechende Infrastruktur aufgebaut werden – das benötigt Zeit. Also selbst wenn alles gut läuft, gehen wohl einige Jahre ins Land, bis wir dieses Prüfungsmodell in der Breite anwenden können.