Wie nehmen benachteiligte Gruppen Prüfungen wahr?
Gespräch mit Herbert Rüb (Agiles Netzwerk für sehbeeinträchtigte Berufstätige – agnes@work), Dr. Tobias Mahnke (Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. – blista) und Nalin Yalcin (Auszubildende in einem dualen Studium in der öffentlichen Verwaltung)
Herr Mahnke, was sollten Prüfer*innen beachten, damit Prüfungen von zu Prüfenden mit Beeinträchtigungen gelingen?
Früher fand die Bildung von Menschen mit Beeinträchtigungen stärker in Förderschulen statt, jetzt bekommen Menschen mit Beeinträchtigungen zunehmend mehr Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Im Sinne einer inklusiven Bildung nimmt die Durchlässigkeit zu und Menschen mit Behinderungen – welcher Art auch immer – sind präsenter in Ausbildung oder Studium. Allerdings sind Vorurteile in den Köpfen nicht im gleichen Maße ausgeräumt. Es gibt zahlreiche Vorurteile, die zu einer Hemmschwelle führen, Menschen mit Benachteiligungen anzusprechen. Dies führt dazu, dass die Auseinandersetzung und Kommunikation mit Menschen mit Beeinträchtigungen häufig ausbleibt.
Das ist in der Berufsausbildung und dem damit verbundenen Prüfungswesen nicht anders. Es gibt den Nachteilsausgleich, der im Berufsbildungsgesetz geregelt ist, wichtiger aber ist die Kommunikation zwischen Prüfer*innen und zu Prüfenden. Sinnvoll ist daher ein Gespräch vor der Prüfung, in dem besprochen wird, wie die Prüfungssituation ausgestaltet werden kann, damit eine gute Prüfung ohne inhaltliche Abstriche zustande kommt.
Frau Yalcin, wie nehmen Sie die Situation als Auszubildende mit Sehbeeinträchtigung wahr?
Die Situation stellt sich unterschiedlich dar, je nachdem, ob ich mir die Situation in der Hochschule oder in der Berufsausbildung vergegenwärtige. Ich habe den Eindruck, dass viele meiner Kommiliton*innen meine Sehbeeinträchtigung nicht wahrnehmen. Ich glaube, dass meine Mitstudent*innen sich zumindest zu einem gewissen Teil nicht vorstellen konnten, dass man mit einer Sehbeeinträchtigung erfolgreich ein Studium absolvieren kann. Von daher scheint mir, dass auch offensichtliche Merkmale, wie z. B. mein Blindenstock, insbesondere von Lehrenden häufiger einfach ignoriert werden. Und dann kommt es zu überraschtem Verhalten, wenn ich meine Benachteiligung explizit anspreche, oder wenn mein Blindenstock sichtbar wird. Es entsteht eine Unsicherheit, die vorher nicht da war.
Es gibt noch eine andere Merkwürdigkeit, die mir vor allem an der Hochschule auffällt. Wenn ich mit einer Begleitung unterwegs bin, z. B. mit meiner Assistenz (einer Arbeitsassistenz, die eigentlich nur dafür da ist, mir Dinge barrierefrei aufzubereiten, etwa durch das Einscannen von Unterlagen), wird diese Person als Ansprechpartner*in wahrgenommen. Auch wenn ich etwas sage oder eine Frage stelle, merke ich, dass dann die Rückmeldung häufiger an meine Begleitperson gerichtet ist. Als ob davon ausgegangen wird, dass mit der Sehbeeinträchtigung noch weitere meiner Fähigkeiten eingeschränkt sind.
Anders ist es in der Berufsausbildung, dort werde ich mit meiner Beeinträchtigung positiv wahrgenommen. Meine Kolleg*innen konnten immerhin direkt feststellen, dass ich meine Aufgaben selbstständig und gewissenhaft bearbeite. Im Gegensatz dazu haben die Mitstudierenden dies in der Regel nicht beobachten können und waren eventuell deswegen auch distanzierter. Ich habe auch schon Prüfungen absolviert und das Instrument Nachteilsausgleich kennengelernt. Aber ist eine bloße Zeitverlängerung bei einer mehrstündigen Prüfung tatsächlich das richtige Instrument? Da bin ich mir nicht sicher. Bei einer mehrstündigen Prüfung kommt man auch ohne Zeitverlängerung an seine Konzentrationsgrenze – diese Zeit noch auszuweiten, ist zumindest im Kontext der Praxisprüfungen nicht unbedingt hilfreich. In den Hochschulprüfungen ist eine solche Verlängerung allerdings essenziell, da man als sehbeeinträchtigte Person mehr Zeit zum Erfassen eines Sachverhaltes o. Ä. hat.
Herr Rüb, wie setzt agnes@work hier an, um die Situation Benachteiligter zu verbessern?
Wir setzen uns für die Belange der Beschäftigten mit Sehbehinderung ein und fokussieren vor allem auf Aspekte der beruflichen Weiterbildung und die Unterstützung am Arbeitsplatz. Daher möchte ich hier auf die Weiterbildung eingehen. Auch diese ist vielfach durch Prüfungen gekennzeichnet, insbesondere im Bereich der Aufstiegsfortbildungen haben wir stark formalisierte Prüfungen, analog zu Abschlussprüfungen in der Berufsausbildung. Bei den (praktischen) Prüfungen in der Berufsausbildung ist es in der Regel so, dass mindestens einer der Prüfer*innen im Rahmen der Ausbildung Kontakt zu der zu prüfenden Person hatte, z. B. als Berufsschullehrer*in oder als betriebliche*r Ausbilder*in, und den Umgang mit der Benachteiligung kennt. Bei den Weiterbildungsprüfungen ist das anders, meist gibt es im Vorfeld keine Kontakte zwischen Prüfer*in und zu prüfender Person. Hier muss sich aufseiten der Prüfer*innen etwas ändern – diese sollten sich beim Thema Benachteiligung nicht allein auf das Thema Nachteilsausgleich zurückziehen. Hilfreich wäre es für uns hier, wenn die zuständigen Stellen das Thema in dieser Weise aufgreifen, denn wir wollen, dass sich an der Struktur etwas verändert.
Herr Mahnke, Sie wollten sich noch zum Nachteilsausgleich äußern.
Richtig, auch wir haben, wenn wir bisher vom Nachteilsausgleich gesprochen haben, vor allem einen zeitlichen Ausgleich im Blick gehabt. Der zeitliche Ausgleich ist aber nicht das Einzige, was hier möglich ist, und auch nicht immer der beste Weg. Wenn z. B. eine Prüfung mit einer üblichen Prüfungszeit von acht Stunden angesetzt ist, dann ist ein Nachteilsausgleich in Form von Zeit unsinnig. Bei einem zeitlichen Ausgleich von 50 % kommen wir auf 16 Stunden, so lange kann keiner prüfen und will auch niemand geprüft werden. Nachteilsausgleich kann aber auch in anderer Form gewährt werden, zum Beispiel in Bezug auf die Materialien für die Prüfung. Aber noch einmal, der oder die zu Prüfende muss sein oder ihr Anliegen zur Sprache bringen können, und es muss ein vorbereitendes Gespräch geben, damit Prüfer*in und zu Prüfende sich auf eine Kommunikationsform verständigen können, die eine Prüfung ohne inhaltliche Abstriche ermöglicht.
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